Wir waren frueher als geplant aus dem Urlaub zurückgekommen und hatten noch zwei Wochen frei, in denen wir zuhause den entgangenen Schlaf nachholen und die verlorenen Pfunde wieder hinfuttern wollten. Zuhause ist in diesem Fall nicht Zuhause, sondern South Carolina, wo es uns beruflich vorübergehend hinverschlagen hat. Eines schönen Vormittags, ich reibe mir gerade den Schlaf aus den Augen, zieht mein Liebster die Jalousie hoch und verkündet: 'Da draussen läuft ein Huhn!' Ein eher ungewöhnlicher Anblick in der amerikanischen Vorstadt (man stelle sich vor: Edward-mit-den-Scherenhänden-Kulisse)! Ich amüsierte mich ein bisschen, das Huhn verschwand um die Ecke und ward erst einmal vergessen. Ein paar Tage später hörten wir leises Gegacker von draussen vor der Haustüre – das Huhn war zurück! Wir hatten einen Sack Vogelfutter in der Garage und stellten ein Becherchen davon vor die Haustüre, und ein paar Apfelstückchen und Wasser. Das Huhn machte den Becher leer und verschwand wieder.
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Noch ein paar Tage später war das Huhn wieder da, und wir lockten es wieder mit ein bisschen Vogelfutter an. 'Hüüüühnchen, komm her, hier gibt’s Futter...!' Es schien sehr hungrig und frass sogar aus meiner Hand. Das war an Silvester, und ich konnte bei der ganzen Knallerei um Mitternacht nur an das arme kleine Huhn denken, das in meiner Vorstellung irgendwo alleine in einer Ecke sass und sich schrecklich fürchtete. Tags darauf kam es wieder – wir waren uns mittlerweile ziemlich sicher, dass es nirgendwo hin gehörte und lockten es mit ein paar Körnchen in unseren Garten. Das war nicht schwer – ein hungriges Huhn ist leicht zu überzeugen...
Nun hatten wir also ein Huhn – und was machen wir jetzt damit? Wir hatten ja weder eine Ahnung von Hühnern noch ein Hühnerhaus oder sonstwas. Also setzten das Huhn und ich uns erst mal auf die Picknickbank auf der Terrasse und besprachen das Nötigste.
Ich nahm an, dass das Huhn einen Unterschlupf brauchte. Und eine Stange, damit es nicht auf den kalten Betonboden sitzen müsste. Das war schnell gemacht – eine blaue Plastikplane über den Picknicktisch gespannt, und eine dicke Bambusstange darunter festgemacht, fertig war der Unterschlupf. Dann erstmal googeln – Neujahrstag, alle Läden zu, was füttern wir jetzt dem hungrigen Huhn, ausser dem Vogelfutter? Obwohl es so hungrig schien, war es ziemlich heikel – wir setzten ihm alles mögliche vor, was wir hier auf Hühner-Info an Verfütterbarem fanden, aber es frass fast nichts, weder die geriebenen Möhren mit Haferflocken und Öl, noch Äpfel, noch meine Kompostwürmer. Altes Brot fand Gnade vor seinen gestrengem Schnabel, aber das sei ja gar nicht so gesund für Hühner, hatte ich gelesen. (Es dauerte ein paar Tage, bis ich Brigittas 'Futtermittel Teil 1-4' gefunden hatte, das klärte die Futterfrage ein für alle mal, vielen Dank dafür!) Also setzten wir uns nochmal hin, futterten Vogelfutter, ich nahm das Huhn auf meinen Schoss, und zu meiner Überraschung liess es sich gemütlich nieder. Wir waren Freundinnen. Zum Schlafen wollte es allerdings nicht in den Unterschlupf, sondern auf die Regentonne. Da war ich nicht ganz einverstanden, die steht nämlich direkt unter unserem Küchenfenster, wo meistens Licht brennt, und man bekommt einen nassen Popo da drauf, und ausserdem, will ich angerührten Dünger in meiner Regentonne? Nein. Also habe ich das Huhn heruntergehoben und auf die Stange im Unterschlupf gesetzt. Am nächsten Tag mussten wir wieder arbeiten, und fragten mal so rum, ob jemand vielleicht ein Huhn bräuchte? Ein Kollege vom Liebsten sagte, er wolle sich sowieso Hühner anschaffen und würde unseres adoptieren. Das zögerte sich allerdings immer wieder und wieder hinaus, und wir hatten das Huhn immer noch. Irgendwo musste es ein bisschen gemütlicher schlafen, und wir legten die ansonsten ungenutzte zweite Regentonne auf die Terrasse, banden sie am Picknicktisch fest, damit sie nicht weggeweht werden konnte, füllten eine Pappschachtel mit Stroh und stellten sie hinein. Das Huhn – das wir immer, mangels Namen, Hühnchen riefen – war begeistert. Bei Einbruch der Dunkelheit marschierte es in die Tonne, kuschelte sich ins Stroh in der Schachtel und schlief ein. Das war sehr praktisch, denn wir hatten ein paar ungewöhnliche Kälteeinbrüche in South Carolina, und so konnten wir das schlafende Huhn in der Schachtel aus der Tonne ziehen und in die Waschküche tragen. Minus 15 Grad fand ich zu kalt, um Hühnchen in der Tonne schlafen zu lassen. Morgens, bevor wir zur Arbeit gingen, trugen wir Hühnchen wieder hinaus. Unser Haus war, äh, zum Glück, so schlecht isoliert, dass das Trinkwasser direkt vor der Terrassentür nicht gefror... Und wenn wir nach Hause kamen, stand Hühnchen schon an der Terrassentür, sobald es die Haustür hörte, und begrüsste uns freudig – 'Hey, da seid ihr ja endlich, wo wart ihr denn so lange, und überhaupt, ihr habt nicht zufällig ein Leckerli für mich?!?' Aber gerne, mein liebes Hühnchen... Hühnchen war im Übrigen, wie oben angemerkt, nicht heikel, es kannte viele essbare Dinge nur einfach nicht und musste das erst lernen. Von dem Tag an, als ich es die Kompostwürmer selber aus dem Eimer suchen liess, waren Würmer der Renner. Äpfel lernte es auch bald, Haferflocken, Gurken, Tomaten, und irgendwann fanden wir in der Schachtel ein Ei! Wir freuten uns wie stolze Eltern, unser Hühnchen hat ein Ei gelegt! Die Freude währte allerdings nicht lange, denn das nächste Ei hatte keine Schale – oh nein, unser Hühnchen ist krank! Was machen wir jetzt? Googeln. Und dann ab zum Tractor Supply, Muschelgrit kaufen. Wir hatten ja immer noch keine Ahnung – unser Hühnchen war ein ganz junges Hühnchen und musste das Eier legen erst noch üben! Wenn ich mir jetzt die Fotos von Anfang Januar anschaue, sehe ich, dass es noch viel gelbere Beinchen hatte und einen ganz kleinen Kamm. Ausserdem war es sooo dünn! Den Kamm versuchten wir an einem besonders kalten Tag mit Vaseline einzuschmieren, damit er nicht erfriert. Die Flecken davon habe ich immer noch auf meiner Jacke. Hühnchen wollte die Notwendigkeit des Kamm-Einschmierens überhaupt nicht einsehen!
Unsere Herzen hatte es nun allerdings ein für alle Mal gestohlen, und wir machten uns an den Bau eines Hühnerhauses. Das waren zwei unvergesslich lustige Tage, denn Hühnchen übernahm die Bauaufsicht, war immer an vorderster Front mit dabei, kommentierte fachmännisch und gab uns einen Eindruck von dem ausserordentlich vielfältigen Repertoire an Lauten, das es produzieren konnte.
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Als wir unser Werk am zweiten Abend fertig hatten und der feierliche Erstbezug anstand, wir standen Spalier für Hühnchen, lief es etwas wackelig die Hühnerleiter hinauf, schlüpfte ins Hühnerhäuschen, drehte eine Runde und begutachtete unser Werk, kam dann wieder heraus – 'ja, das habt ihr toll gemacht, aber sorry, es ist schon spät und ich muss jetzt ins Bett.Gute Nacht!' – und marschierte in seine Regentonne zum Schlafen... Da überlegten wir zum ersten Mal, ob wir Hühnchen nicht Rumpel taufen sollten, wie die Figur aus der Sesamstrasse, die in der Tonne wohnt. Aber Hühnchen blieb Hühnchen, der Name blieb kleben, und hier in Amerika fällt es eh niemand auf, dass wir unser Huhn schlicht 'little chicken' rufen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Hühnchen ins Hühnerhaus zog, es schlief noch lange lieber in der Tonne. Wir waren dann auch mal drei Tage eingeschneit (in South Carolina!), keiner verliess das Haus, das öffentliche Leben stand still und Hühnchen wohnte vorübergehend in der Waschküche. Sie war tödlich gelangweilt da drin, und wir versuchten sie mit verschiedenen Aktionen zu bespassen (unter anderem Klorollenpappefussball), aber sie war nicht zufrieden. Wir schippten also ein Stückchen Terrasse frei und liessen sie raus. Sie machte kurz ein überraschtes Gesicht – was zum Teufel ist denn hier los, alles weiss! - stieg auf mein frisch geschipptes Schneehäufchen, sank ein bisschen ein, machte einen Schritt, rutschte ein bisschen ab und hatte die Schnauze gleich gestrichen voll von dem weissen Zeug. Wir liessen sie trotzdem noch ein bisschen draussen, aber es gefiel ihr gar nicht. Einzig die Eiszapfen, die vom Picknicktisch hingen, gefielen ihr – sie hatte grossen Spass daran, die Spitzen abzupicken! Zum Glück taute der Schnee nach drei Tagen wieder weg. Es wurde dann auch gleich richtig warm, und ich war auch gerne draussen, und wenn ich eh schon da bin, kann ich eigentlich was Nützliches tun – ich fing also an, ein bisschen Unkraut in den Beeten zu jäten. Hühnchen war sofort mit Feuereifer dabei, ich musste nur mit meiner Hacke ein bisschen kratzen, und Hühnchen ging voller Elan ans Werk und scharrte alles Unkraut heraus.
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Noch nie hat Unkraut jäten so viel Spass gemacht! Der Boden hier ist grösstenteils schwerer, klebriger Lehm, und als Hühnchen fertig war, hatte sie zwei Kilo Matschquader an den Füssen. Sie sah aus wie eine Ente!
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Wir nahmen uns also an verschiedenen Tagen Stück für Stück das Beet mit den Gardeniabüschen und den Lilien vor. Nun, wenn man ein Huhn die Gartenarbeit machen lässt, achtet man besser darauf, robuste Pflanzen zu haben – es ist wirklich eine grosse Hilfe, aber die Unterscheidung zwischen Unkraut und Blumen, die üben wir nochmal...
So langsam begann dann das erste Grün zu spriessen, und Hühnchen genoss in vollen Zügen die neue Vielfalt. Ich war nicht ganz so angetan davon, dass sie alle meine Blumen anpickte, und von den Primeln kriegte sie auch noch Durchfall. Die kamen hinten so raus, wie sie vorne reingegangen waren, und das ging sehr schnell. Wir machten also einen Deal – Hühnchen darf ein Beet behalten (eines mit robusten Pflanzen und nicht ganz so lehmiger Erde, in dem sie immer ihr Staubbad nahm) und ich kriege die anderen drei. Ein Zaun musste her. Wir fuhren wieder mal zum Tractor Supply und kauften zwei Rollen Hasendraht. Die Zaunpfähle machte ich aus Bambusstangen, die noch in der Garage rumlagen. Hühnchen fand das wieder ganz toll, immer wenn wir am Basteln und Bauen waren, war sie sehr interessiert. Sie setzte sich also auf meine Bambusstangen wie ein Zirkushuhn, und ich stand mit dem Bandmass in der Hand daneben wie der Hühnerdompteur.
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Dass sie beim Balancieren einen extrem stinkigen, riesigen Hühnerschiss mitten auf die Terrasse in mein Arbeitsareal setzte, sei hier nur mal am Rande erwähnt... das war wohl so eine Art vorgezogener Rache, sie war nämlich stinksauer, als der Zaun fertig war und sie feststellte, dass ihr nicht mehr der ganze Garten zur Verfügung stand. An diesem Abend tat sie mir fürchterlich leid, sie hatte zwar ihr Hühnerhaus, aber sie konnte nicht mehr zu ihrer Tonne und rannte völlig aufgelöst am Zaun hin und her. Es brauchte eine ganze Weile beruhigendes Zureden, bis sie endlich ins Hühnerhaus zum Schlafen ging. Und das mehrere Abende hintereinander... ich kam mir vor wie ein Tierquäler. Ich habe ein viel zu weiches Herz für sowas. Hühnchens erster Unterstand und ihre Regentonne waren beide leuchtend blau, und bis heute kommt sie immer inspizieren, wenn sie etwas leuchtend Blaues sieht – zum Beispiel den Eimer, mit dem ich Tag für Tag die Hühnerhäufchen einsammle und den Stall saubermache. Da folgt sie mir immer auf dem Fuße, und guckt immer wieder hinein, und ich erkläre ihr immer wieder, dass da nichts von Interesse drin ist. Sie glaubt es meist nicht und überzeugt sich zehn Sekunden später nochmal selber. Egal, was ich draussen mache, wenn Hühnchen in meiner Nähe ist – und das ist sie fast immer – macht sie lustige singende Geräusche, die wohl heissen 'Bist Du da?' und ich antworte, so wie sie, 'rrrrrrrrrr, bok', ja, ich bin bei Dir, dann geht’s wieder ganz kurze Zeit, dann kommt die nächste Anfrage: 'Bok bok rrrrrrrrrrrrrrrr?'
Ich hab ihr auch alle möglichen Leckereien unter den Schnabel gehalten, manches mag sie gern, manches gar nicht (zum Beispiel Möhren), und wenn sie was probiert und es schmeckt ihr überhaupt nicht, quittiert sie das mit einem tiefen 'Bok'. Das klingt so eindeutig, sie könnte genausogut 'Bäh' sagen.
So langsam begann uns das schlechte Gewissen wegen etwas anderem zu drücken - Hühner sind eigentlich gesellige Vögel, und unser Hühnchen im Besonderen, und obwohl ich so viel Zeit wie möglich mit Hühnchen verbracht habe, war sie immer lange alleine. Jetzt hatten wir schon ein Hühnerhaus, einen Zaun - ein zweites Huhn musste also her, eine Gesellschafterin für Hühnchen...
Aber diese Geschichte kommt dann in Teil 2!
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